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Proteststimme ins Wahlgesetz – was kommt danach?

(Ausführlichere Darstellung hierzu s. Seitenende)

Aktionsprinzip einer künftigen Initiative Parteien-Stop sollte sein:
Den Parteien Forderungen stellen, deren Erfüllung ihre Macht schmälert und deren Ablehnung ihre Vertrauensbasis schwächt. Forderungen also, deren Erfüllung und deren Ablehnung sie substanziell beschädigen würde.
Bei der Forderung "Proteststimme ins Wahlgesetz" ist genau dies der Fall.

Erfüllen werden die Parteien solche Forderungen aber nur dann, wenn der dabei erwartbare Verlust an Bedeutung und Macht ihnen einigermaßen glimpflich erschiene. Daher sollten keine Forderungen gestellt werden, die das Parteiensystem unmittelbar in Existenzangst versetzt. Die Forderung Proteststimme ins Wahlgesetz dürfte diesem Kriterium entsprechen. Gleiches gilt für die Forderung, den Parlamenten und den Parteien die Zuständigkeit für Reformen des Wahlrechts und des Parteienwesens zu entziehen (s. hierzu Ein anderer Einstieg auf dieser Website). Beides ließe zumindest darauf hoffen, dass die Parteien sich irgendwann darauf einlassen.

Die Einführung der Proteststimme ins Wahlgesetz wird für sich genommen aber wenig an der Qualität von Politik ändern. Daher müsste die Kampagne gegen die leistungsschwache Parteiendemokratie mit anderen Mitteln fortgesetzt werden. Es müssten weitere plausible, der Parteienmacht abträgliche politische Forderungen gestellt werden, deren Ablehnung das Vertrauen in die Parteien weiter untergrübe. Dies könnte z.B. bei folgender Forderung der Fall sein:

Das Stimmrecht von Abgeordneten ist auf Ressorts zu begrenzen, in denen sie fachlich kompetent sind.

Die Parteien werden solche Forderung, so plausibel sie auch intuitiv ist, natürlich entschieden zurückweisen. Sie werden darauf beharren, dass alle ihre Abgeordneten in allem und jedem kompetent sind und daher über alles und jedes abstimmen dürfen. Damit bestreiten sie die Möglichkeit, dass Abgeordnete von manchem fast nichts oder zumindest viel zu wenig verstehen. Einer solchen Behauptung fehlt aber natürlich jegliche Glaubwürdigkeit.

Die Parteien werden sich davon nicht beirren lassen. Ihr Gegenargument wird sein: Keine Person und keine Instanz der Welt könne über die Fachkompetenz – und damit über das Stimmrecht – von Abgeordneten objektiv entscheiden. Niemand dürfe sich daher anmaßen, Abgeordneten Entscheidungsbefugnisse vorzuenthalten. Ein System, dass allen Abgeordneten in allem hohe Fachkompetenz unterstelle, sei zwar nicht perfekt, aber es sei immer noch das bestmögliche.

Dieses Argument ist leicht zu widerlegen. Die obige Forderung ist nämlich erfüllbar, ohne dass Abgeordnete von irgendwem auf ihre Fachkompetenz hin überprüft werden müssten. Die Kompetenz der stimmberechtigten Abgeordneten ließe sich nämlich durch eine ganz einfache und unverdächtige Verfahrensregel wie diese erheblich steigern:

Das Stimmrecht von Abgeordneten ist auf ein Politikressort (alt.: maximal zwei Politikressorts) beschränkt. Abgeordnete lassen zu Beginn einer Legislaturperiode ihr Stimmrecht für ein Ressort (maximal zwei Ressorts) registrieren, in denen sie sich besonders kompetenter fühlen.

Wenn nach dieser Regel ein Abgeordneter zu Beginn einer Legislaturperiode das Stimmrecht beispielsweise für das Wirtschafts- und das Sozialressort wählte, brauchte er sich danach mit allen anderen Politikbereichen nur noch beiläufig zu befassen. Er könnte seine ganze zeitliche und intellektuelle Kapazität seinen selbstgewählten Spezialressorts widmen.

Für die Abgeordneten wäre dies nicht nur eine große Entlastung, es wäre auch die Erlösung von einer andauernden Selbsttäuschung. Sie wären davon befreit, immer wieder eine nicht vorhandene Entscheidungskompetenz simulieren zu müssen.

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass heutige Abgeordnete nur einen geringen Bruchteil der Gesetzesvorlagen, über die sie abstimmen, selbst lesen, ganz zu schweigen von deren Entstehungsgeschichte, von Abwägungen, Vorentwürfen und vorbereitenden Stellungnahmen von Ministerien, Parteien, Gutachtern, Beiräten und Lobbyisten. Bei einer Beschränkung auf ein oder maximal zwei Ressorts könnten Abgeordnete sich erstmals ein halbwegs fundiertes Urteil zu allen Entscheidungen bilden, an denen sie mit ihrem Votum mitwirken. Keine Parlamentsentscheidung würde in solchem Verfahren schlechter, die meisten würden viel oder zumindest etwas besser werden als in der bisherigen Praxis.

Die Parteien würden dem natürlich nicht nachgeben, sie würden weitere Einwände vorbringen. Sie würden u.a. behaupten, bei solchem Verfahren würden parlamentarische Mehrheiten unberechenbar und das Regieren damit unnötig erschwert. Aber auch das entspräche nur dem Eigeninteresse der Parteien, nicht dem der Bürger. Parteipolitische Berechenbarkeit macht nicht die Politik besser, sie macht nur das Regieren nach Parteiinteressen leichter.

All das sind natürlich langfristige Überlegungen. Über Forderungen wie Spezialisierung der Abgeordneten ebenso wie Proteststimme ins Wahlgesetz wird nicht kurzfristig entschieden werden. Die Auseinandersetzung hiermit erfordert nicht weniger als einen politischen Bewusstseinswandel. Trotzdem sollten möglichst frühzeitig mögliche ergänzende Forderungen bedacht werden, Forderungen also, die den Parteien wieder nur die Wahl zwischen Machtverlust und weiterem Vertrauensverlust ließen. Eine solche Forderung wäre z.B. diese:

Parteien dürfen auf maximal zwei Politikebenen aktiv sein: Europa- und Bundespolitik, Bundes- und Landespolitik oder Landes- und Kommunalpolitik.

Oder in verschärfter Form:

Parteien, die in der Bundespolitik oder der Europapolitik aktiv sind, dürfen nicht in der Landes- und nicht in der Kommunalpolitik aktiv sein.

Diese Forderungen mögen noch gewöhnungsbedürftiger sein als die oben genannten, aber rein sachlich sind sie ebenso plausibel. Auch sie liegen ganz und gar im Interesse der Bürger, ganz und gar nicht dagegen im Interesse der Parteien. Auch die Erfüllung dieser Forderungen würde eine weitere politische Spezialisierung bewirken, eine Erhöhung der Fachkompetenz auf allen Politikebenen und damit eine höhere Qualität politischer Entscheidungen. Zudem wäre die Erfüllung dieser Forderungen schon ein vorweggenommener Reformschritt in Richtung neokratischer Staatsformen. Mehr müsste der bestehenden Parteiendemokratie daher in dieser Phase nicht zugemutet werden.

Dennoch sollte natürlich mit einer Einforderung der Proteststimme schon die nächste Phase der Demokratieentwicklung in den Blick genommen werden. Die Proteststimme würde durch eine Änderung des Wahlgesetzes eingeführt, aber wenn tatsächlich ein sehr großer Anteil der Bürger die Proteststimme nutzte, brächte dies den politischen Reformprozess auf eine neue Ebene. Dann nämlich wären die Proteststimmen als Aufkündigung des Verfassungskonsenses über den Parteienstaat zu werten.

Von einem solchen Konsens kann nicht mehr die Rede sein, wenn mehr als ein Viertel der Wähler Proteststimmen abgibt. Dies wäre das Signal, dass eine neue (neokratische) Verfassunggebung in die Wege zu leiten ist, wofür dann ein (zunächst informeller) Permanenter Verfassungsrat bzw. -kongress eingerichtet werden sollte. (Näheres hierzu u.a. auf www.neopolis.info, Informeller Verfassungsrat.) Da dies aber – anders als eine Wahlrechtsänderung – nicht mit einfacher Parlamentsmehrheit beschlossen werden könnte, wird es den Parteien in einer noch viel entschlosseneren zivilgesellschaftlichen Anstrengung abzuringen sein.

PS: Hier eine weitere plausible Forderung, mit der Parteien sich im Vorfeld von Verfassungsreformen unter Druck setzen ließen:
Parteimitgliedschaften von öffentlich Bediensteten, von Beschäftigten in öffentlich-rechtlichen Anstalten, im Bildungswesen, in der Wissenschaft, in der Justiz, im Kulturbetrieb, in den Medien, in politischen Nichtregierungsorganisationen, in staatlich beherrschten Unternehmen sowie in Unternehmen bzw. Unternehmensbereichen, die staatliche Aufträge erhalten, müssen im Außen- und Innenverhältnis offengelegt und im Internet recherchierbar gemacht werden.

Eine solche Offenlegung würde Korruption und Machtmissbrauch der Parteien erheblich erschweren.

Ein begleitendes Aktionsprogramm zur Proteststimmen-Forderung ist ausführlicher beschrieben in: