Die unten beschriebene Einführung einer förmlichen Proteststimme in das Wahlrecht wäre eine Mindestmaßnahme, um der wachsenden Politik- und Parteienverdrossenheit politisch gerecht zu werden.
Eine differenziertere Version des Proteststimmenkonzepts ist im folgenden Beitrag beschrieben:
Weitere Beiträge zu grundlegenden Wahlrechtsreformen in der Rubrik Wahlrecht auf der verbundenen Website Reformforum Neopolis
Proteststimme - die Forderung
Bundeswahlgesetz, § 4 Stimmen, lautet bisher:
Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste.
Dieser Paragraf ist wie folgt zu ändern:
Jeder Wähler hat zwei Stimmen: eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten oder "keines Wahlkreisabgeordneten", eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste oder "keiner Landesliste".
Die Proteststimme – warum, wofür und wie?
Stellt euch vor, es ist Wahl und keiner geht hin. Auf den ersten Blick eine schöne Utopie.
Mit Wahlen ist es wie mit Krieg, auch wenn die Folgen von Wahlen ähnlich schlimm sein können: Irgendjemand macht immer mit. Im Krieg wie bei Wahlen gibt es immer genug Mittäter, um stolze Sieger hervorzubringen. Die Leidtragenden stehen im Schatten.
Demokratische Wahlen können viele politische Katastrophen befördern, große wie kleine, bis hin zu Kriegen und Bürgerkriegen. Sie tun dies auch und gerade in der Gegenwart. (S. hierzu auch den Essay Die Katastrophen der Demokratie, Kurzfassung, hier.) Dass etwas faul ist im demokratischen Staat und mit den demokratischen Wahlverfahren, wird daher immer mehr Bürgern bewusst. Vor ein paar Jahrzehnten waren die meisten Wähler noch Überzeugungstäter, jetzt gilt dies nur noch für eine Minderheit. Die Wahlbeteiligungen sind tendenziell fallend, und wer noch wählt, tut dies mit weniger innerer Anteilnahme. Dies ist so, wenn Personen gewählt werden, erst recht aber, wenn es um Parteien geht. Restlos überzeugte Parteienanhänger sind selten geworden. Auch diejenigen, die vom Parteienwesen insgesamt enttäuscht sind, werden immer mehr.
Als Wahlberechtigte haben die Enttäuschten genau drei Alternativen (s. hierzu auch auf dieser Website HINTERGRÜNDE / ANALYSEN): nicht wählen, zähneknirschend eine „normale“ Partei wählen oder eine sog. Protestpartei wählen.
Alle drei Alternativen sind entweder wirkungslos oder schädlich.
Für die Parteien-Skeptiker bedeutet dies: Sie bedürfen dringend neuer Formen politischer Willensbekundung. Skeptiker und Enttäuschte müssten ihre Skepsis und Enttäuschung zumindest unmissverständlich und öffentlichkeitswirksam artikulieren können. Sie müssten es auf gleiche Weise tun können, wie die noch-nicht-enttäuschten Anhänger von Parteien es mit der Stimmabgabe für ihre Partei tun.
Das bedeutet: Wähler müssten explizite Proteststimmen abgeben, also auf Wahlzetteln keine Partei bzw. kein Kandidat ankreuzen können.
Bundeswahlgesetz, § 4 Stimmen, lautet bisher:
Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste.
Dieser Paragraf ist daher wie folgt zu ändern:
Jeder Wähler hat zwei Stimmen: eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten oder "keines Wahlkreisabgeordneten", eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste oder "keiner Landesliste".
Darüber hinaus ist durch entsprechende Gesetzgebung Folgendes sicherzustellen:
- Die Anzahl der Proteststimmen und deren Anteil an den insgesamt abgegebenen Stimmen werden in amtlichen Wahlergebnissen gleichrangig mit den sonstigen Ergebnissen ausgewiesen und bekanntgegeben.
- Der Rang der Proteststimme auf den Wahlzetteln richtet sich nach der Anzahl der Proteststimmen in der jeweils voraufgegangenen Wahl. Nur Parteien und Kandidaten, die mehr Stimmen erhalten haben als die Summe der abgegebenen Proteststimmen, dürfen auf Wahlzetteln höher als die Proteststimme platziert werden.
- In Wahlen, bei denen erstmals Proteststimmen abgegeben werden können, bemisst sich der Rang der Proteststimme auf den Wahlzetteln nach mindestens der Hälfte der Anzahl der Nichtwähler in der voraufgegangenen Wahl.
Um den Proteststimmen die ihnen gebührende Rolle in der politischen Willensbildung zu verschaffen, ist darüber hinaus – u.a. durch Änderung des Parteiengesetzes – Folgendes zu gewährleisten:
- Proteststimmeninitiativen erhalten auf Antrag rechtlichen Parteienstatus, sofern sie die für die Zulassung von Parteien geltenden formellen Kriterien erfüllen.
- Sie erlangen damit auch Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung sowie auf Sendezeiten für kostenlose Wahlwerbung.
- Diese Sendezeiten sind zunächst nach dem erwarteten Proteststimmenanteil (entsprechend der Hälfte der vormaligen Nichtwähler) und später am Proteststimmenanteil in vorangegangenen Wahlen zu bemessen.
Begründung
Der Anteil der Bürger, die mit allen zur Wahl stehenden Parteien und Kandidaten unzufrieden sind, ist stark gewachsen. Dies legen nicht nur der hohe Nichtwähleranteil, sondern auch demoskopische Erhebungen nahe. Es entspricht im Übrigen der Alltagserfahrung der meisten Bürger. Diese Unzufriedenheit auch als Wähler zum Ausdruck bringen zu können und sie in Wahlergebnissen abgebildet zu sehen ist daher ein dringendes und legitimes Anliegen.
Die Einführung förmlicher Proteststimmen würde zudem vielen unzufriedenen Wählern die Wahlentscheidung für populistische so genannte Protestparteien ersparen, von deren politischer Kompetenz sie selbst nicht überzeugt sind. Eine Schwächung der populistischen Protestparteien wiederum würde sich positiv auf die Kultur politischer Willensbildung und die Qualität politischer Entscheidungen auswirken.
Die Parteien erfüllen nicht mehr die ihnen im Parteiengesetz auferlegten Aufgaben, und hieraus muss der Gesetzgeber Konsequenzen ziehen. Im Parteiengesetz heißt es u.a.:
„Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens … mit,
indem sie insbesondere…
(-) die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern,
(-) zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden…. und
(-) für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.“
Dies gelingt den Parteien nur noch rudimentär. Weder fördern sie mit hinreichendem Erfolg die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben, noch bilden sie im erforderlichen Ausmaß und in der erforderlichen Qualität Bürger heran, die zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigt sind. Sie sorgen auch nicht erfolgreich für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen.
Den Bürgern ist daher zu ermöglichen, diese Missstände durch förmliche Proteststimmen öffentlichkeitswirksam anzuprangern.
Natürlich ist die Forderung einer solchen Wahlrechtsänderung nur ein erster Schritt, und natürlich werden die Parteien alles tun, um die Einführung der Proteststimme zu verhindern. Die Proteststimme lautstark zu fordern setzt Parteien, Parlamente und Regierungen aber immerhin unter erhöhten Rechtfertigungsdruck. Das Verweigern der Proteststimme wird die Parteien daher immer mehr politischen Respekt kosten. Je respektloser die Bürger aber den Parteien gegenübertreten, desto brüchiger wird deren Widerstand.
Die Proteststimmenforderung ist ein Mittel, den Weg zu Reformen des Parteienstaats zu ebnen, aber sie ist weder das einzige, noch muss sie das erste Mittel sein. Vorangehen könnte z.B. die hoch plausible Forderung, dem Parteienstaat die Zuständigkeit für Reformen des Parteienwesens und des Wahlrechts zu entziehen und diese Zuständigkeit einem unabhängigen gesetzgebenden Gremium zu übertragen. (Zu dieser von Hubertus Buchstein angeregten Forderung s. die Rubrik Ein anderer Einstieg auf dieser Website.)
Um Politik nachhaltig besser zu machen, muss aber noch viel mehr geschehen. Die Proteststimmen dürfen nicht nur ein Angebot an die Bürger sein, ihrem Unmut über den Parteienstaat öffentlichkeitswirksam Luft zu machen. Sie müssten vielmehr konkrete, im Voraus definierte Folgen haben.
Eine unverzichtbare Folge wäre: Wenn der Anteil der Proteststimmen einen gesetzlich definierten Schwellenwert überschreitet, gilt dies als Delegitimierung des herkömmlichen Parteienstaates und damit als Aufkündigung des Verfassungskonsenses über die bestehende Staatsform.
Auch dies sollte in ein erneuertes Wahlgesetz aufgenommen werden. Näheres hierzu auf dieser Website auch unter: Was danach kommt.