Kurzeinführung Sozialstaat
Wie kann ein neuer Sozialstaat entstehen?
Der herkömmliche Sozialstaat ist ein Konstrukt von einschüchternder Komplexität. Ob man sich für genau diesen Sozialstaat entschiede, wenn man noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, diese Frage wird kaum je gestellt. Nur diese Frage aber macht den Blick frei für einen Sozialstaat, der den Bedürfnissen künftiger Generationen bestmöglich gerecht würde.
Wie aber lässt sich ein grundlegend neuer Sozialstaat realisieren, wenn der alte, überkomplexe Sozialstaat wie eine uneinnehmbare Festung erscheint? Wenn allein dessen Komplexität den Systemübergang unbeherrschbar erscheinen lässt? Wenn es z.B. scheint, als würde jeder solche Übergang die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer spalten? Als müsste sich mindestens eine Generation von solcher Systemumstellung betrogen fühlen?
Die Antwort hieße dann: Ein grundlegend neuer Sozialstaat ließe sich nur in einem unfriedlichen Prozess verwirklichen. Daher wundert es nicht, wenn die Politik dieser Herausforderung ausweicht und auch die theoretische Auseinandersetzung hiermit vernachlässigt wird.
Ein intuitiv zugänglicher und praktikabler Ausweg aus diesem Dilemma ergibt sich im Rahmen des Neokratiekonzepts. Die neokratische Lösung sieht vor, dass die zu Beginn eines solchen Systemübergangs lebenden Generationen ihr Leben nach den Regeln des alten Sozialstaats zu Ende leben dürfen. Nur für die Nachgeborenen würden von Beginn an die Regeln des neuen Systems mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten gelten. Dieser Verfahrens"trick" macht selbst eine denkbar radikale Systemumstellung in größtmöglichem gesellschaftlichen Einvernehmen möglich.
Natürlich wäre auch in solchem Verfahren der Systemübergang alles andere als trivial. Das Versprechen, die bei Umstellungsbeginn Lebenden so zu stellen, als lebten sie im alten Sozialstaat weiter, wäre nur durch anspruchsvolle Simulationsrechnungen und daraus resultierende Umverteilungen erfüllbar. Solche Simulationen ließen sich aber mit weithin akzeptierter Genauigkeit und Plausibilität berechnen. Niemand hätte daher ein gewichtiges Interesse, sich als Bürger und Wähler gegen solche Systemumstellung zu stellen.
Eine ganz andere Frage ist, ob eine so radikale und langfristig angelegte Reform je aus herkömmlichen demokratischen Entscheidungsprozessen hervorgehen könnte. Hieran sind Zweifel angebracht. Die bestehenden demokratische Verfahren wurden nicht für derartig langfristige Herausforderungen geschaffen. Neokratische Verfahren dagegen sind genau auf solche Herausforderungen zugeschnitten.
Die Rolle des Bürgergeldes
Bei der Konzeption eines neuen Sozialstaats spielt das Instrument des Bürgergeldes eine zentrale Rolle.
Der – von mir 1990 eingeführte – Begriff Bürgergeld ist hier allerdings mit Vorsicht zu verwenden. Dieser Begriff wurde im Lauf der Zeit für immer diversere und konservativere Bedeutungen zweckentfremdet. Das Bürgergeld im ursprünglichen Sinn wurde so benannt, weil es allen Bürgern eines Landes dauerhaft und ausnahmslos in gleicher Höhe als Grundeinkommen ausgezahlt würde. In ähnlicher Bedeutung hat sich auch die Bezeichnung "bedingungsloses Grundeinkommen" durchgesetzt. Damit war aber zumeist ein Grundeinkommen gemeint, das für sich genommen einen auskömmlichen Lebensunterhalt abdeckt.
Das Bürgergeldkonzept bescheidener und dementsprechend realistischer. Es ist dem Wesen nach ein Vollbeschäftigungskonzept. Der auskömmliche Lebensunterhalt wird hierbei durch die Summe aus garantiertem Bürgergeld und einem garantiertem Mindest-Arbeitseinkommen (bzw. Sozialversicherungsleistungen) gewährleistet.
Das Bürgergeld wird also ergänzt durch eine Beschäftigungsgarantie zu einem entsprechend moderaten Mindestlohn.
Dies öffnet die Erwerbsbeteiligung auch für viele Menschen mit – z.B. altersbedingt – eingeschränkter Leistungsfähigkeit und entsprechend geringem erzielbaren Arbeitseinkommen. Dieses Arrangement erleichtert es auch, das Renteneintrittsalter demographischen Notwendigkeiten anzupassen.
In einem solchen Vollbeschäftigungssystem ist die Erwerbsbeteiligung – und ist damit die Wirtschaftsleistung – höher als im herkömmlichen Sozialstaat. Damit finanziert sich das Bürgergeld zu einem gewissen Anteil selbst.
Wie hoch dieser Selbstfinanzierungeffekt ausfällt, hängt natürlich davon ab, wie weit der Arbeitsmarkt im bestehenden System von der Vollbeschäftigung entfernt ist. Dies wiederum hängt – neben dem sozialstaatlichen Regelwerk – von veränderlichen Faktoren wie den Organisationsstrukturen der Wirtschaft (Outsourcing u.a.) und menschlichen Verhaltensweisen wie dem sog. Gleichbehandlungsanspruch ab. Näheres hierzu in den Erläuterungen zum Arbeitsmarkt in der Rubrik Wirtschaft, Themenbereich Beschäftigungspolitik).
Spontane Solidarität und politische Assoziationsfreiheit
In der Demokratie muss ein Sozialstaat von den Bürgern gewollt sein. Wie wirkungsmächtig dieser demokratische Wille ist, hängt vom spontanen kollektiven Solidarempfinden der Bürger ab. Kollektives Solidarempfinden wiederum gedeiht am besten dort, wo die Bürger sich aus freiem Willen zu einer Solidargemeinschaft zusammengeschlossen haben. Ein moralisch starker Sozialstaat mit einem verlässlichen Bürgergeldsystem kann daher nur gedeihen, wo der Sozialstaat in diesem Sinne ein freiwilliger Zusammenschluss ist.
Dies ist längst nicht in allen Staaten der Fall. Bei der Entstehung von Staaten und ihren Grenzen hat die Frage, wie viel spontane Solidarität die Bürger füreinander empfinden, oft keine oder nur ein geringe Rolle gespielt.
Regeln für eine dem Empfinden der Bürger entsprechende geographische Abgrenzung von Staaten (und demzufolge Sozialstaaten) werden dagegen im Konzept der sog. politischen Assoziationsfreiheit vorgeschlagen. Diese Freiheit wiederum gehört zu den Grundlagen neokratischer Staatsordnungen (s. hierzu auch die Rubrik • Staatsgrenzen sowie das Glossar).
Die Gewährung und Ausübung dieser Freiheit hätte in vielen Teilen der Welt heilsame Anpassungen der politischen Landkarte zur Folge.